Tauben und Menschen

Von Ulli Diemer


Wenn ich mich in der Stadtmitte begebe, also fast täglich, bemerke ich, dass ich viel Zeit damit verbringe, andere Fußgänger zu beobachten. Teilweise tue ich dies wegen meiner Neugierde, weil mich Menschen einfach faszinieren. Aber es ist auch eine Sache der Notwendigkeit, denn auf den Gehwegen und Kreuzungen tummeln sich die Menschen und man muss stets aufmerksam sein, um nicht zusammenzustoßen.

Was ich erstaunlich finde, ist, wie gut die meisten von uns unseren Beitrag in diesem komplizierten Ballett leisten, das auf den Gehwegen einer Stadt stattfindet. Zu Stoßzeiten, in denen auch ich mich dort befinde, sind manchmal hunderte Menschen in einem einzigen Block in Bewegung. Sie gehen in dieselbe oder in die entgegengesetzte Richtung, durchqueren die Straße, unterhalten sich mit den Leute neben ihnen, betreten und verlassen Geschäfte, tragen Taschen, Musikinstrumente und Sportausrüstung, oder kommen plötzlich zum Stehen.

Darüber hinaus schauen viele von ihnen auf ihre Handys, anstatt darauf zu achten, wohin sie laufen. Das stimmt so aber nicht ganz, denn einige von ihnen schauen auf das GPS ihres Handys, welches ihnen in der Tat sagt, in welcher Richtung sich ihr Zielort befindet. Leider teilt es ihnen nicht mit, wenn jemand direkt vor ihrer Nase steht.

Und dennoch funktioniert es. Wir verweben uns, weichen einander aus, bewegen uns zickzackförmig, begeben uns auf die eine oder die andere Seite, verlangsamen oder beschleunigen unseren Gang und tun all dies fast ausschließlich ohne dabei zusammenzustoßen.

Wir sind nicht die Einzigen, die dies bewältigen. In jeder anständigen Stadtmitte, inklusive in der in Toronto, wo ich lebe, leben Tauben. Diese haben das Gehweg-Ballett genauso gekonnt wie die Menschen gemeistert. Ich versuche meinen Weg zum Büro zu variieren, aber ganz gleich, welchen Weg ich nehme, entdecke ich immerzu mehrere Orte, an denen sich die Tauben versammeln. Diese Orte sind ausnahmslos immer auf einem Gehweg. Dort befindet sich das Essen, nämlich das auf natürliche Weise vorkommende Essen, beispielsweise in der Nähe von Orten, wo Menschen essen und versehentlich ein wenig von ihrem Essen fallen lassen. Dann gibt es noch die Orte, zu denen Menschen gezielt hingehen, um Tauben zu füttern, sodass die Tauben sich dort aufhalten, um gefüttert zu werden.

In Toronto sind mir zum Beispiel der Philosophers Walk und Queens Park North als Orte bekannt, in denen Tauben gefüttert werden. Viele solcher Orte befinden sich direkt auf beschäftigten Gehwegen. Dies stellt für die Tauben zumindest kein Problem dar. Die Tauben sind lediglich eine weitere Sorte der Fußgänger, die sich zwar dem stetigen Strom von menschlichen Fußgängern bewusst sind, sich von ihnen aber nicht beunruhigen lassen. Um einen Menschen oder einer anderen Taube zu umgehen, laufen sie einen Schritt zur Seite, und das ist alles. Selten machen sie sich die Mühe, sich in die Luft zu erheben, außer, wenn sie als ein Schwarm ankommen oder abreisen. Hierbei demonstrieren sie ihre bewundernswerte Fähigkeit, eng beisammen zu bleiben, ohne dabei zusammenzustoßen - und das in drei Dimensionen, statt bloß die zwei, die wir Menschen meistern.

Ich stelle mir einen unsichtbaren, außerirdischen Beobachter vor, der die Szene in Queens Park beobachtet. Wir Menschen sind uns natürlich bewusst, dass wir Menschen sind, und denken, dass wir dadurch besonders sind. Jedoch würde dieser Unterschied aus der Perspektive eines Außerirdischen eher unerheblich scheinen. Sie würden in dieser Szene eine beachtliche Anzahl an beschäftigten zweibeinigen Wirbeltieren sehen, einige größer, die anderen kleiner, einige mit Flügeln, andere ohne, aber sie alle sind in diesem städtischen Fußgängerverhalten engagiert und gehen ihrem mysteriösem Zweibeiner Geschäft nach. Selbstverständlich würde ein Außenstehender zur Schlussfolgerung kommen, dass wir zusammengehören.

Damit würden sie Recht haben. Wohl oder übel, es scheint, dass Menschen und Tauben tatsächlich zusammengehören. Unsere Beziehung begann vor tausenden Jahren, als die Felsentauben, die irgendwo im Fruchtbaren Halbmond oder im Mittelmeerraum auf Klippen brüteten, bemerkten, dass die Menschen dort unten Getreide sammelten und einiges davon in der Nähe verschütteten. Kostenloses Essen!

Irgendwann begannen diese Menschen Konstruktionen aus Schlamm, Holz und Stein zu errichten. Kostenlose Brutplätze in der Nähe des Essens!

Die Menschen lernten ihrerseits, dass Felsentauben leicht gezähmt werden konnten, wenn man die Jungen aus den Nestern herausnahm. Sie konnten auch dazu gebracht werden, sich zu vermehren (obwohl es nicht so ist, dass eine Aufforderung bei Felsentauben benötigt wird) und einige der Jungen, die sie produzierten, konnten gegessen werden. Kostenloses Essen! Kostenlose Federn!

Seitdem sind wir zusammen. Als die Menschen von winzigen Ansammlungen zu Hütten zu Dörfern und schließlich zu Städten wechselten, begleiteten die (Felsen-)tauben sie jedes Mal. (Unsere gewöhnlichen Tauben - die Columba Livia - sind die sogenannten Felsentauben.)

Heute sind Tauben die Stadtvögel schlechthin. Tatsächlich sind Tauben (eventuell neben Spatzen und Staren) die einzigen Vögel, die viele Menschen, die in dicht besiedelten städtischen Gebieten leben, jemals sehen.

Nicht jeder hat die Tauben gerne um sich. Sie versammeln sich und lassen sich in großer Anzahl nieder, was viele Menschen einschüchternd finden. Darüber hinaus produzieren sie reichlich viel Kot, das nicht nur widerlich ist, wenn man unvorsichtig unter einer Taube läuft, sondern auch ein Gesundheitsrisiko darstellen kann. Krankheiten, die mit Taubenkot verbunden sind, sind zum Beispiel Kryptokokkose, Histoplasmose und Psittakose.

Ich erinnere mich an den Tag, an dem meine Partnerin Miriam und ich eine Radtour unternahmen, die uns zu St. Jamestown brachte, welches aus einer dichten Ansammlung von Hochhäusern besteht und im östlich-zentralen Teil Torontos liegt. Wir stiegen von unseren Fahrrädern ab, um die Produkte der Straßenhändler zu begutachten, die sich am Gehweg in der Nähe des Supermarktes versammelt hatten. Das war der Moment, in dem Miriam die Außenanlage entdeckte, aus der die Kunden die Einkaufswagen für den Supermarkt nahmen. Die Außenanlage und die Einkaufswagen waren beschmutzt von Taubenkot und Müll. Miriam war empört. Ein Teil der Patienten des Gesundheitszentrums, in dem sie als Ärztin arbeitete, stammte aus St. Jamestown. Sie erlitten aufgrund ihrer Armut Nachteile in vielerlei Hinsicht. Hier mussten sie Einkaufswagen, die von Taubenkot beschmutzt waren, benutzen, um ihre Einkäufe zu erledigen.

"Warte hier!", sagte sie, und marschierte in den Supermarkt, um ein Gespräch mit dem Manager zu verlangen. "Ich bin Ärztin", sagte sie ihm. "Der Bereich für die Einkaufswagen stellt ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko dar. Ich werde Sie beim Gesundheitswesen melden müssen, wenn sie ihn nicht sofort bereinigen." Ich bin mir nicht sicher, ob der strahlend blaue Fahrradhelm ihre Aura der Autorität verstärkte, aber nach weniger als fünf Minuten, begaben sich zwei Supermarktangestellten mit Schläuchen und Reinigungszubehör nach draußen. Miriam vergewisserte sich, dass sie ihre Arbeit taten und sagte mir dann "In Ordnung, wir können jetzt gehen".

Taubenprobleme ergeben sich hauptsächlich aufgrund ihrer Geselligkeit. Sie sind gerne zusammen unterwegs. Und viele Probleme ergeben sich dadurch, dass Menschen sie füttern, sodass sie - und ihr Kot- sich an Orten, die von Menschen stark frequentiert sind, versammeln.

Ich nehme an, dass es in jeder Stadt auf der Welt Menschen gibt, die gerne Tauben füttern. In der Tat haben viele Städte das Füttern von Tauben verboten, aber es ist fast unmöglich, Menschen, die Tauben füttern, zu unterbinden. Ich habe neulich eine Diskussion vor einem Wohngebäude beobachtet. Eine Frau hatte ihrer Tochter Futter für die Tauben gegeben, und ein Mann, der im angrenzenden Gebäude lebte, bat sie, aufzuhören, weil der Gehweg vor dem Gebäude von Taubenkot beschmutzt war. Unterdessen befindet sich in einem Park in der Nähe von meinem Zuhause ein Schild, das seit Jahren das Füttern von Tauben untersagt. Das Schild findet man schnell, denn man muss nur nach dem Taubenschwarm auf dem Boden Ausschau halten, der das Essen, das die Menschen tagtäglich in der Nähe des Schildes für sie dalassen, futtert.

Was Menschen angeht, die Tauben füttern, bin ich zwiespältig. Ich heiße es nicht gut, aber ich befürchte, dass viele der Menschen, die Tauben füttern, einsam sind und kaum Kontakt zu anderen Menschen haben, sodass Tauben die einzigen Lebewesen sind, mit denen sie regelmäßig interagieren können. Darum halte ich mein Urteil zurück.

Orte, an denen Essen zu finden ist, sind die Sozialzentren des Taubenlebens. Sie bieten nicht nur Essen, aber auch die Möglichkeit von Sex. Ein Männchen, das ein Weibchen entdeckt, kann seinen Hals aufblähen, seinen Kopf mehrmals wippen, hin und her stolzieren, sich verbeugen und verführende, gurrende Geräusche machen. Wer könnte dem widerstehen?

Tauben sind seit langem Symbole für Fruchtbarkeit und der Grund dafür ist leicht zu begreifen. Wie Menschen, paaren sich Tauben das ganze Jahr über. Wenn die Bedingungen gut sind, können Weibchen jährlich bis zu sechs Klauen von Eiern legen. Tauben sind in Bezug auf ihre Brutplätze weder wählerisch, noch sonderlich sentimental. Wenn eine Brut scheitert, beispielsweise aufgrund einer unerwarteten, anhaltenden Kältewelle, dann stapeln sie weiteres Nistmaterial auf die ungeschlüpften Eier oder auf den toten Babys und beginnen von vorne.

In Städten finden solch kreative und anpassungsfähige Vögel wie Tauben eine Vielzahl an Brutplätzen. Ich erinnere mich daran, dass die Fensterbänke des Royal Ontario Museums vor seiner Renovierung von Zacken umgeben waren, die verhinderten, dass Tauben sich dort aufhielten und brüteten. Daraufhin stopften die Tauben Nistmaterial zwischen den Zacken, bis sie irgendwann einen Haufen aus Zweigen bauten, der höher war als die Spitzen der Zacken. Und dann bauten sie ihre Brutplätze. Ich kann mich erinnern, dass an einem anderen Ort, nämlich in einer Bauunterführung an der Autobahn, die Gemeinde ein orangefarbenes Netz anbrachte, um zu verhindern, dass Tauben dort brüteten. Ich denke, es funktionierte ein paar Monate lang, bevor die Tauben dahinter kamen. Danach konnte man Taubennester sehen, welche orangefarbenes Netz in ihr Nistmaterial einbauten.

Ornithologen teilen uns mit, dass Tauben in der Regel monogam sind. "In der Regel monogam" - ein wirklich interessantes Konzept. Aufgrund meiner Lektüren zur Naturgeschichte weiß ich, dass es unter Säugetieren und Vögeln zwei Arten der Monogamie gibt. Die eine ist die "100% Monogamie" und die andere ist die "Monogamie-Lite". Letztere meint, "überwiegend monogam, aber, wenn sich die Möglichkeit ergibt, werde ich einen Quickie mit jemand anderem haben". Tauben fallen in die zweite Kategorie.

Neben der Tatsache, dass Tauben in eigener Sache klug sind, spielten sie in der Geschichte der Wissenschaft eine wichtige Rolle, vor allem halfen sie Charles Darwin dabei, die Evolutionstheorie auszuarbeiten.

Die Vögel, die bekanntlich mit Darwin assoziiert werden, sind die Finken der Galapagosinseln. Die dreizehn Finkenarten, die er auf verschiedenen Inseln entdeckte, stammten von einem gemeinsamen Vorfahren ab, aber entwickelten dann verschiedene Eigenschaften, vor allem ihre Schnäbel, da sie sich an die verschiedenen Nahrungsquellen anpassten, die sie auf ihren jeweiligen Inseln vorfanden. Sie zeigen auf wunderbare Art, wie Evolution funktioniert.

Jedoch war die Begegnung mit den Finken der Galapagosinseln kein Aha-Erlebnis für Darwin. Er bemerkte nicht einmal, dass sie allesamt Finken waren, bis die Arten, die er nach England gebracht hatte, von Taxonomen untersucht wurden. Erst später realisierte er, dass sie solch aussagekräftige Beweise für die Evolution präsentierten. Er benutzte diese, um die Theorie, die er bereits entwickelt hatte, zu untermauern.

Die Vögel, die Darwin einen der bemerkenswertesten Beweise für die Evolution lieferten, waren tatsächlich Tauben. Dank der Mühen von Taubenzüchtern, denen sich Darwin im Laufe seiner Forschung anschloss, gab es unzählige Arten von domestizierten Tauben, die scheinbar alle von einem gemeinsamen Vorfahren stammten, inklusive der Columbia Livia bzw. der Felsentauben. Die Tatsache, dass so viele Arten durch die Selektionszucht erzeugt werden konnten, war ein Beweis dafür, dass Spezies sich tatsächlich verändern konnten. Darwin kam zur Schlussfolgerung, dass derselbe Prozess ohne den Eingriffen von Menschen stattfinden könnte, nämlich durch zufällige Variation und natürliche Selektion, also durch den Mechanismen durch denen Evolution funktioniert.

Darwins Wissen über Tauben sowie seine Leidenschaft für sie waren seiner Familie sowie Freunden bekannt und waren seinen Texten zu entnehmen. Whitwell Elwrin, der das Manuskript des Buches Über die Entstehung der Arten vor seiner Veröffentlichung las, lehnte Darwins Evolutionstheorie ab. Er notierte, dass das Manuskript " eine wilde und törichte Fantasievorstellung" war, das nicht veröffentlicht werden sollte. Aber er schlug vor, dass der Abschnitt über die Tauben als eigenes Buch veröffentlicht werden sollte. Er schrieb, dass sich ein solches Buch gut verkaufen würde, "weil jeder sich für Tauben interessiert".

Über die Entstehung der Arten mit seinen "wilden und törichten" Theorien wurde tatsächlich veröffentlicht und veränderte die Geschichte der Wissenschaft. Einige Jahre später veröffentlichte Darwin Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation, welches einen langen und wunderschön illustrierten Abschnitt zu Tauben enthielt. Wie Über die Entstehung der Arten wird es auch heute noch gelesen. Darwin war wirklich sehr an Tauben interessiert. Und ich ebenso.

Ulli Diemer
2022




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