Die Schornsteinsegler lockten mich an diesem Abend nochmal nach draußen. Ich hatte zwar schon einen Spaziergang hinter mir, aber die Tür stand offen, und ihr Gezwitscher veranlasste mich, ihm zu folgen, wie er es so oft tut. In meiner Nachbarschaft sind sie abends sehr aktiv. Wenn man im Sommer spazieren geht, kann man davon ausgehen, dass man sie definitiv hören wird, aber sie zu sehen zu bekommen erweist sich als schwieriger.
Das knifflige an dem Versuch, Segler zu sehen, ist, dass man sie hört und nach oben schaut, um herauszufinden, woher das Gezwitscher kommt, aber sie nicht findet. Sie sind Vögel, die 100km/h fliegen können, also wenn es dich eine halbe Sekunde kostet, nach oben zu schauen, können sie sich schon in 100 Meter Entfernung befinden. Auf Englisch nennt man sie "Swifts"- sehr passend, denn "swift" bedeutet schnell.
Segler sind mysteriöse, rätselhafte und widersprüchliche Vögel. In gewisser Weise sind sie überwiegend Stadtvögel, zumindest im Sommer, denn sie haben sich vor langer Zeit angepasst, und in Schornsteinen gebrütet, obwohl sie einst in hohlen Bäumen brüteten. Aufgrund von Jahrzehnten der Holzwirtschaft entfiel diese Option schließlich. Nun leben sie bei uns, aber ihre Optionen für Brutplätze werden kleiner, zumal alte Schornsteine verschlossen werden oder verschwinden. Mauersegler und Alpensegler, Arten, die man in Europa, Afrika und im Mittelmeerraum findet, brüten seit tausenden von Jahren in von Menschenhand geschaffenen Gebäuden. Eine Seglerkolonie hält sich seit mehr als 2000 Jahren an der Westwand in Jerusalem auf. Obwohl sich das Land seither enorm verändert hat, kommen die Segler ausnahmslos im Frühling zurück und beanspruchen ihre Nester.
Im Gegensatz zu anderen Stadtvögeln haben Segler überhaupt nichts mit uns zu tun. Weder interagieren sie mit uns, noch halten sie sich in unserer Nähe auf, wie wir es von anderen Vögeln gewohnt sind. Sie lassen sich nicht auf Bäume oder Drähte nieder. Sie landen nicht auf dem Boden oder auf einem Vogelbad. Sie sind dazu nicht in der Lage, denn sie haben sich auf so außergewöhnliche Weise zu einem Leben in der Luft entwickelt, dass sie die charakteristischen Eigenschaften der meisten Vögel, die wir kennen, verloren haben. Ihre Füße können sich nur an vertikale Flächen klammern, wie zum Beispiel an Backsteinen oder Bäumen. Dies genügt für ihre Bedürfnisse, weil sie nur einen kleinen Teil ihres Lebens unten auf unserer irdischen Welt verbringen.
Es stimmt nicht ganz, dass Segler gänzlich aus Flügeln bestehen, aber sie sind nicht weit entfernt davon. Verglichen mit anderen Vögeln hat der Wanderalbatros die größten Flügel - ein Vogel, der viel größer ist als der Segler, mit einer Flügelspannweite von drei Metern. Aber wenn der Albatros sich nach dem Flügel-zu-Körpergewicht Verhältnis eines Seglers sehnen würde, müsste er Flügel besitzen, die 90 Meter breit wären.
Im alten Persien nannte man die Segler "Windfresser". Dieser Name spiegelte das Geheimnisvolle an diesen Vögeln, die wirkten, als würden sie in der Luft leben und niemals herunterkommen, um zu essen oder sich auszuruhen.
Wir wissen, dass ihr Speiseplan aus Fluginsekten besteht, die für uns unsichtbar sind, da wir auf dem Boden leben. Ein weiteres Rätsel ergibt sich durch die Frage, warum sie nicht zum Erdboden zurückkehren.
Nur einige Jahre zuvor, wurde es möglich, winzige Sensoren zu entwickeln, die leicht genug waren, um an den Flügeln der Segler (Mauersegler und Alpensegler) während der Brutzeit angebracht zu werden. Die Daten, die durch die Sensoren gewonnen wurden, zeigten, dass erstaunlicherweise die alten Sagen wahr waren.
Wenn sie gerade nicht nisten, leben die Segler tatsächlich in der Luft. Nachdem sie Anfang Herbst ihre Brutplätze verlassen, verbringen die Mauersegler und Alpensegler mehr als 200 Tage in Folge in der Luft, ohne jemals zum Erdboden hinabzusteigen. Sie essen, interagieren miteinander, paaren sich und schlafen sogar in der Luft. Nachts fliegen sie tausende Meter nach oben, um eine Windströmung zu erhaschen, die ihnen gefällt. Danach schlafen sie anscheinend, während sie noch fliegen.
Neuerdings haben wir durch Studien zu Seglern in ihrem ersten Lebensjahr neue Erkenntnisse gewonnen. Im ersten Lebensjahr paaren sich Segler nicht, sodass sie keinen Grund dazu haben, im Frühling zu ihren Brutplätzen zurückzukehren. Durch die Sensoren, mit denen junge Mauersegler ausgestattet waren, konnte man herausfinden, dass diese 300 Tage oder mehr in der Luft verbringen, ohne jemals zum Erdboden hinabzusteigen. Gelegentlich stieg einer für die Nacht hinab, um einem Sturm zu entkommen, aber die meisten blieben in diesen zehn Monaten ununterbrochen in der Luft. Schätzungen zufolge fliegen Segler 200,000 Kilometer pro Jahr. Da sie mehr als 20 Jahre leben, fliegen sie in ihrer gesamten Lebenszeit mehrere Millionen Kilometer.
Es stellt sich heraus, dass Segler nicht die einzigen Vögel sind, die in der Lage sind, zu schlafen, während sie fliegen. Fregattvögel können ein oder zwei Monate lang in der Luft und über dem Meer, bleiben ohne zu landen (ungewöhnlicherweise für Seevögel, können Fregattvögel nicht auf Wasser landen).
Wie Segler und Fregattvögel in der Lage sind, zu schlafen, während sie fliegen, bleibt ein Rätsel. Eine Theorie besagt, dass die Hälfte ihres Gehirns schläft, während die andere Hälfte noch wach ist. Wale und Delfine haben ähnliche Anpassungen entwickelt. Sie müssen zwar schlafen, aber dennoch auf ihre Umgebung und potenzielle Gefahren achten. Zudem müssen sie aufwachen, um an die Wasseroberfläche zu kommen, damit sie atmen können. Dies können sie nur bewältigen, indem sie zu einem Zeitpunkt bloß die Hälfte ihres Gehirns abschalten.
So erstaunlich wie sie auch sind - was Segler in meinen Augen so besonders macht, sind nicht ihre beeindruckenden biologischen Anpassungen, sondern was sie versinnbildlichen.
Da ich erdgebunden bin und aktuell meine Optionen, verschiedene Orte zu besuchen, zusätzlich durch die Pandemie eingeschränkt sind , sehne ich mich nach ihrer Freiheit, dorthin zu fliegen, wohin sie nur möchten. Sie genießen das Höchstmaß an Freiheit, denn sie können solange wie sie möchten weit über der Erde segeln, dorthin gehen, wohin sie möchten. Dabei müssen sie niemals allein sein, denn sie sind immer mit anderen ihrer Art zusammen, und schnattern, wohin auch immer sie unterwegs sind.
Gewissermaßen verkörpern die meisten Vögel unerreichbare Freiheit. Das Rotkehlchen, das mein Vogelbad besucht, schaut mich mit seinen leuchtenden Augen an, während ich es beobachte: Zwei Wirbeltiere, die beide auf zwei Beinen stehen. Einen Moment lag bin ich mir dessen bewusst, was wir beide gemeinsam haben. Augenblicklich, und ohne erkennbarer Anstrengung, fliegt er hoch, während ich noch unten auf dem Boden stehe und mir schmerzlich dessen bewusst bin, zu dem es fähig ist, was ich aber niemals erleben werde.
Mehr als jeder andere Vogel, hat sich der Segler in den Himmel begeben und sich von der Erdoberfläche losgelöst. Genau diese Tatsache ist der Grund für meine emotionale Bindung zu ihm. Mir macht es nichts aus, dass es eine unerwiderte Liebe ist: Ich bin mir bewusst, dass Segler keine Ahnung haben, dass ich existiere, aber das ist in Ordnung.
Auch andere Vögel sind dabei, den Erdboden auf eine ganz andere Weise endgültig hinter sich zu lassen. Silberalke sind Seevögel, die im Nordpazifik leben. Diese müssen an Land kommen, um ihre Eier zu legen, wie sie es zum Beispiel in Höhlen auf dem Waldboden in Haida Gwaii und in ein paar anderen Orten tun. Sobald die Eier schlüpfen, kehren die Eltern zum Meer zurück. Von der Küste aus werden die Jungen, die nur einen Tag alt sind, von ihren Eltern gerufen, und auf ihren wabbeligen kleinen Beinchen eilen sie dann den Waldboden entlang zu ihren Eltern. Ein weiteres Rätsel bzw. ein weiteres Beispiel von einer Fähigkeit von Vögeln, Dinge zu tun, die wir nicht einmal begreifen, besteht darin, dass jeder Jungvogel die Rufe seiner eigenen Eltern identifizieren kann. Sobald sie wiedervereint sind, schwimmen sie weiter hinaus ins Meer, wo ihre Eltern sie füttern werden. Der Silberalk verbringt weniger Zeit auf dem Land als jeder andere Vogel. Ich bin noch nie einem Silberalk begegnet, aber ich bin froh, auf demselben Planeten zu leben wie er.
Ich hatte das Glück, in der Nicoya Habinsel in Costa Rica Meeresschildkröten und ihre frisch geschlüpften Jungen zu sehen. Auch Meeresschildkröten kommen nur ans Land, um ihre Eier zu legen. Sobald die Jungen schlüpfen, eilen sie zum Wasser und bleiben ihr Leben lang dort. Eines Tages werden die überlebenden erwachsenen Weibchen von ihrem mysteriösen Orientierungssinn geleitet und schwimmen tausende Kilometer, um zum selben Strand zurückzukehren, an dem sie damals geschlüpft waren, und legen ihre eigenen Eier dort. Obwohl ich an ihrer riesigen Welt niemals teilhaben werde, sehne ich mich nach ihrer Freiheit.
Dasselbe verspürte ich, als ich Walen begegnet bin, unter anderem einem Buckelwal in Newfoundland, der unter und neben unserem Boot hin und her schwamm, da er offensichtlich neugierig über uns und darüber, was wir machten, war. Er hatte die Möglichkeit, dorthin zu gehen, wohin er nur möchte, und dennoch nahm er sich ein paar Minuten, um dort herumzuhängen und sich mit ein bisschen Menschen-Beobachtung zu vergnügen. Wir fühlten uns sehr geehrt.
Die Natur liegt mir sehr am Herzen und ist eine Quelle der Freude. Und genau deshalb ist sie zu diesen Zeiten auch eine Quelle des Schmerzes und der Trauer. Schornsteinsegler sind am Leben in der Luft äußerst angepasst und sind ausgesprochen unabhängig. Jedoch gibt es nun weit weniger von ihnen - dasselbe gilt für viele fliegende Insektenfresser. Das Einzige, woran sie sich nicht anpassen können, ist die Zerstörung ihrer Nahrungsmittelversorgung sowie Brutplätze durch Menschen. Meeresschildkröten haben 100 Millionen Jahre in den Ozeanen gelebt, nun wird ihr Überleben aber von Ölverschmutzungen, Plastik, Erwärmung der Ozeane, Industriefischerei und Einrichtungen, die am Strand gebaut werden und Brutplätze zerstören, bedroht.
Es sind nicht nur ein paar Arten, die in Gefahr sind. Plankton, Insekten, Bäume, und alles, was auf sie angewiesen ist: das gesamte Netz aus Lebewesen, die kleinen und die großen, zeigen allesamt Anzeichen der Entwirrung.
Die Katastrophen, die unsere Welt plagen, sind unter anderem Gier, Kurzsichtigkeit, Militarismus, Rassismus, Sexismus, und endloser Wachstum. Man kann sie alle mit einem Wort zusammenfassen: Kapitalismus. Die Ursache des Problems und die Hoffnung einer Lösung liegt in den Händen unserer Spezies, welche die intelligenteste und gleichzeitig die dümmste Spezies auf der Erde ist.
Im Wald fühle ich mich am wohlsten. Ich habe unzählige Stunden in Wäldern verbracht, aber noch nie habe ich einen Wolf gesehen. Allerdings habe ich ihr Heulen in der Entfernung gehört, und war sehr begeistert davon. Obwohl ich noch nie Wölfe gesehen habe, ist es mir wichtig zu wissen, dass sie irgendwo da draußen im Wald sind - wild und frei. Ich wünsche mir, dass sie auch lange nach meinem Tod noch leben. Dennoch befürchte ich, dass sie, und unzählige andere Arten, zu denen auch viele gehören, deren Namen ich nicht einmal kenne, bald von der Erde verschwinden. Dieses Wissen darüber, dass wir den Kampf verlieren - obwohl er eigentlich noch nicht verloren ist, und ich weiterhin kämpfe - dieses Wissen ist eine Quelle tiefer Trauer.
Ulli Diemer
Originaltext in englischer Sprache. Deutsche Übersetzung von Hamna Takhmir.