Wer also in einer freien und gerechten Gesellschaft leben will, kann sich dabei nicht auf den Staat verlassen. Selbst Maßnahmen die ein Vorteil für die Bürger bieten sind oft ein zweischneidiges Schwert. Zum einen steigt der Einfluss vom Staat auf die Gesellschaft, zum anderen bringen neue Regelungen meist zusätzliche Einschränkungen, deren Auswirkungen schwer abzusehen sind.
Rechte und Freiheiten
In dieser Ausgabe lesen Sie ein Interview mit Ulli Diemer, Koordinator von Connexions. Connexions (Toronto, Kanada) stellt Informationen für Personen oder Organisationen bereit, die an einer alternativen Gestaltung unserer Gesellschaft und Umwelt interessiert sind. In diesem Interview, das von Jeff Orchard geführt wird, spricht Ulli über zahlreiche Themen zum sozialen Wandel.
F: Sie setzen sich nun schon seit mehreren Jahren für den gesellschaftlichen Wandel ein. Haben sich Ihre Standpunkte in dieser Zeit sehr verändert oder sind sie gleich geblieben? Was würde der Ulli Diemer von damals über den Ulli Diemer von heute denken? Welche Unterschiede könnte er feststellen?
UD: Oftmals nimmt man Veränderungen an sich selbst als Letzter wahr. Oder man wird sehr selbstgerecht, was die Veränderungen betrifft, vielleicht um sein Gewissen zu beruhigen.
Soviel ich weiß, haben sich meine Standpunkte aber nicht all zu sehr geändert, zumindest nicht wenn es um grundlegende Dinge geht. Ich habe kürzlich etwas gelesen, das ich vor 15 Jahren geschrieben habe. Im Prinzip stand da kaum etwas drin, was ich heute nicht auch schreiben würde. Vielleicht ein paar Kleinigkeiten, aber nichts Weltbewegendes. Allerdings schauderte ich etwas über die Art und Weise, wie ich mich ausgedrückt habe. Man kann also sagen, dass ich heute zumindest besser schreiben kann.
F: Es gibt sicherlich Leute, die Ihnen vorwerfen, nicht mit der Zeit gegangen zu sein. Die Welt hat sich verändert. Wir befinden uns jetzt im Computerzeitalter. Sollten wir unsere Denkweise nicht auch anpassen, anstatt Ideen, die 25 oder 100 Jahre alt sind, nachzutrauern?
UD: Ein großes Problem unserer Gesellschaft ist, dass immer alles neu und anders sein muss. Ich werde mich nicht für die Tatsache entschuldigen, dass ich alte Ideen habe. Manche Ideen, die ich am besten finde, sind 2000 Jahre alt oder noch älter und für mich sind diese heute noch genau so gültig wie damals.
Ich bin allerdings der Meinung, dass wir zwischen grundlegenden und nichtgrundlegenden Dingen entscheiden müssen. Offensichtlich müssen wir unsere Analyse anpassen, sobald sich die Situation ändert. Eine Analyse der politischen Situation in Osteuropa von 1969 wäre heute alles andere als hilfreich. Und wir müssen auch unsere Handlungsweise anpassen. Im Jahr 1969 musste ich nichts am Computer erledigen. Heute benutze ich fast ständig meinen Computer. Trotzdem versuche ich genau dieselben Ziele wie damals zu erreichen.
F: Welche Ziele sind das? Sie waren früher als Marxist bekannt, als ein Verfechter des sogenannten libertären Sozialismus. Würden Sie sich heute noch genauso nennen? Und was wollen Sie damit genau sagen? Wurden der Sozialismus und der Marxismus nicht durch die Geschehnisse in Osteuropa in Verruf gebracht?
UD: Nun, wie Sie wahrscheinlich wissen, hat das politische System, mit dem ich mich identifiziere, das sowjetische System schon immer als äußerst verräterisch betrachtet, also als genaues Gegenteil von dem, was Marx eigentlich mit Sozialismus meinte. Diese Gesellschaften waren in etwa so sozialistisch wie die Inquisition ein Ausdruck der christlichen Ideale war. Sozialismus wie ihn Marx beschreibt setzt einen Abbau des uns bekannten Staates voraus und steht für maximale Freiheit des Individuums, eine radikal demokratisierte Gesellschaft, Rede- und Vereinigungsfreiheit, ein Ende der Zensur und der Todesstrafe. Wenn Sie sich anschauen, was Marx eigentlich geschrieben hat, werden Sie sehen, dass jeder einzelne wichtige Punkt von den sowjetischen Diktaturen falsch verstanden wurde.
Marx und Engels haben extra betont, dass der Ersatz des kapitalistischen Eigentums durch staatliches Eigentum nur eine andere Form der Tyrannei wäre: Kapitalismus, in dem der Staat an die Stelle der privaten Kapitalisten tritt. Rosa Luxemburg warnte 1918 davor, dass der Ansatz der Bolschewiki alle Möglichkeiten des Sozialismus in Russland zerstören würde.
F: Wieso nennen Sie sich dann weiterhin einen Sozialisten, wenn die meisten mit diesem Wort den Horror des Stalinismus verbinden?
UD: Das ist sicherlich eine berechtigte Frage. Viele Leute, die dieselben Ansichten wie ich teilen, haben sich von dem Begriff distanziert und nennen sich anders, bzw. versuchen es ganz zu vermeiden, irgendwo eingeordnet zu werden. So etwas kann ich gut verstehen. Ich beginne normalerweise auch keine politische Diskussion mit dem Satz, dass ich Sozialist bin. Wenn man sich heutzutage Sozialist nennt, gibt es ohne Zweifel Leute, die sofort dicht machen und sich sagen: Ich weiß was du für einer bist, dir werd ich erst gar nicht zuhören.’
Der Grund, warum ich mich immer noch Marxist und Sozialist nenne, ist, weil ich es bin. Ich glaube an diese Ideen. Ich glaube, dass Marx Theorien die besten sind, wenn man verstehen möchte, wie die Gesellschaft funktioniert und wie man sie ändern könnte. Natürlich hat Marx nicht in allem Recht und die Welt hat sich seit seinem Tod stark verändert.
Ich bin aber der überzeugung, dass jeder Versuch, unsere Welt freier, gerechter und ökologischer zu machen, seine Basis in der marxistischen Kritik und Methode finden muss. Und wenn du daran glaubst, kannst du dich auch Sozialist oder Marxist nennen. Denn wenn du willst, dass die Leute sich näher mit Marx und den guten Marxisten wie Luxemburg befassen, musst du früher oder später mit Gerüchten um sie herum aufräumen.
F: Wo ist denn nun der Begriff libertärer Sozialismus’ einzuordnen?
UD: Es heißt libertärer Sozialismus’ weil dieser Sozialismus die Freiheit und Demokratie über alles stellt. Außerdem kann man mit diesem Begriff ein wenig provokativ sein und eine Diskussion anregen, indem man die Leute dazu bringt, sich zu fragen: Ist dieser Begriff nicht eigentlich widersprüchlich?’. Das kann man dann nämlich verneinen und schon hat die Diskussion begonnen.
F: Auch wenn Sozialismus als Ideal gut ist, ist er denn nicht unrealistisch? Bewegt sich die Welt nicht eher in die andere Richtung? Hat die soziale Bewegung bis jetzt denn überhaupt irgendwas erreicht?
UD: Ganz klar, es ist ein harter Kampf. Vermutlich wird die Welt auch eher schlechter als besser werden. Aber wer weiß das schon? Wer hätte vor fünf Jahren an das geglaubt, was gerade in Osteuropa passiert ist?
Meiner Meinung nach gibt es keinen Zweifel daran, dass soziale Bewegungen einen großen Einfluss auf die Geschehnisse haben. Die Frauenbewegung, die Umweltbewegung und Gewerkschaften haben die Spielregeln der Gesellschaft grundlegend verändert.
Vielleicht hat das System diese Bewegungen teilweise stoppen können, aber bereits dadurch musste es ein Stück weit nachgeben.
Ebenso haben wir vieles erreicht, was vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick sichtbar ist. Zum Beispiel konnten wir schon oft Schlimmeres verhindern. Darunter fallen lokale Einsätze wie das Stoppen eines Atomkraftwerks oder die Bewegung gegen den Vietnamkrieg, die vermutlich die US-Regierung immerhin davon abgehalten hat, den Vietnamesen noch mehr Schaden zuzufügen.
Klar, wenn man für fundamentale Veränderungen kämpft, ist es nicht besonders befriedigend zu wissen, dass man nur Schlimmeres verhindern, aber nichts Fundamentales verändern konnte. Aber selbst unsere kleinen Siege haben das Leben vieler Leute sowie unser eigenes Leben wirklich verändert. Das freut uns, auch wenn wir natürlich immer auch Größeres erreichen wollen.
F: Wenn dies so ein harter Kampf ist, würden Sie dann nicht manchmal am liebsten aufgeben und das Handtuch werfen?
UD: Es hat aber keinen Sinn, aufzugeben. Es ist ja nicht so, als würde man im Jahre 1970 in Osteuropa wohnen oder in Saddam Husseins Irak. Klar, wenn du Gefahr läufst, erschossen zu werden, weil du dich dem Regime widersetzt oder für zehn Jahre in ein Gefangenenlager oder eine psychiatrische Anstalt gesteckt wirst, dann solltest du natürlich darüber nachdenken, aufzugeben.
Außerdem glaube ich fest daran, dass wir den Luxus, heute hier zu sitzen, nur einigen Menschen zu verdanken haben, die unter schwierigsten Umständen Widerstand geleistet haben. Wenn wir ein gewisses Maß an Freiheit und Demokratie - egal wie eingeschränkt - in zumindest einigen Teilen der Welt haben, dann nur, weil einige Leute bereit waren, ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen und das zu einer Zeit, als die Lage viel aussichtsloser als heute war.
Es gibt nicht viele von solchen Leuten. Nelson Mandela z.B. hätte für seine Ideale ein Vierteljahrhundert ins Gefängnis gesteckt werden können. Aber sollte die Demokratie nach Südafrika kommen, dann, weil Mandela und andere nicht aufgehört haben, zu kämpfen. In einem Land wie Kanada bedarf es viel weniger Mut, ein Aktivist zu sein.
F: Wenn es aber sowieso aussichtslos erscheint, seine Ideale zu erreichen, ist es dann nicht ein wenig so, als würde man seine Ideale aufgeben, da man ja keine Hoffnung zu haben braucht, diese zu verwirklichen?
UD: Hoffnung gibt es immer. Auch wenn man vielleicht seine endgültigen Ziele nicht erreichen kann, kann man doch Veränderungen erreichen. Jeder einzelne kann einen kleinen Teil beitragen und das macht die Welt insgesamt ein kleines bisschen besser und menschlicher. Man kann zumindest die Basisarbeit für die darauf folgenden Generationen leisten, die dann an dieser Stelle weitermachen können. Der Krieg gegen die Rassentrennung in Südafrika zieht sich nun schon über mehrere Generationen. Die meisten Frauen und Männer, die diesen initiierten, sind heute nicht mehr unter uns, aber wenn es letztendlich einen Erfolg gibt, werden sie einen wichtigen Teil dazu beigetragen haben. Wir Menschen machen viele Dinge, deren Endresultat wir nicht mehr erleben werden – wir pflanzen Bäume, wir geben unseren Enkelkindern Geld. Es wird Generationen dauern, bis wir eine wirklich freie Gesellschaft erreicht haben werden.
Irgendwie ist es auch gar nicht so wichtig, wie wahrscheinlich es ist, dass man seine Ziele erreicht – und das sage ich, obwohl ich diese ja unbedingt erreichen will. Ich würde genau dasselbe machen, ganz egal ob die Wahrscheinlichkeit nun bei 5% oder 95% liegt. Ich kämpfe für gewisse Ideale, weil ich an sie glaube. Wenn Ungerechtigkeiten (die ich wirklich hasse) fest verwurzelt sind, bedeutet das dann, dass ich sie einfach ignorieren soll? Wenn ich feststelle, dass es unwahrscheinlich ist, die Freiheiten, die ich erreichen will, zu erlangen. Soll ich dann so tun, als wollte ich eigentlich gar nicht dafür kämpfen? Wäre ich dann glücklicher? Wie könnte ich dann mit mir selbst leben? Wir schulden all die Rechte und Freiheiten den Leuten, die selbst unter den schlimmsten Bedingungen gekämpft haben.
Ehrlich gesagt kann ich es schon verstehen, wenn Leute ihre Ideale aufgeben. Ich erwarte nicht von jedem, dass er sich mit so viel Herzblut in die Sache hängt wie ich es tue. Ich verstehe es, wenn Leute sich zurückziehen, weil sie beruflichen oder emotionalen Stress haben, weil sie gesundheitlich angeschlagen sind oder weil sie sich um ihre Kinder kümmern müssen. Unsere Beiträge hängen immer von unseren persönlichen Lebensumständen ab. Wir tun so viel, wie wir in der Lage sind, zu tun.
Dies hat aber nichts mit Aufgeben zu tun. Denn wenn man aufgibt, betrügt man sich selbst. Wenn man sagt, Ungerechtigkeiten interessieren einen nicht, solange man in Ruhe gelassen wird, dann ist es einem auch egal, ob andere Menschen leiden, solange man selbst nicht leidet und ob andere Menschen frei sind, solange man selbst sich nicht einmischen muss. Für mich bedeutet ein solches Verhalten aber, dass man seine Menschlichkeit aufgibt. Ich möchte eine bestimmte Art von gesellschaftlichem Wandel erreichen, weil dies der einzige Weg ist, mit mir selbst zu leben. Leute, die sich selbst aufgegeben haben, tun mir Leid. Sie sind oft selbstgerecht, aber sie scheinen nicht glücklich zu sein.
F: Was sagen Sie zu dem Argument, dass die Art der Gesellschaft, die sie anstreben, utopisch sei und dass Leute zu egoistisch und unzuverlässig für eine wirklich freie und demokratische Gesellschaft seien? Haben Sie nicht zu viel Vertrauen in das Gute im Menschen?
UD: Ich denke nicht, dass der Mensch grundsätzlich gut ist. Ich denke es ist eine sehr komplizierte und widersprüchliche und manchmal auch dehnbare Mischung zwischen Gut und Böse. Viel hängt davon ab, wievielt die Gesellschaft aus dem Potential macht, das in jedem Menschen vorhanden ist und unsere Gesellschaft ist sehr gut darin, das Schlechteste im Menschen zu fördern. Eine andere Gesellschaft könnte uns helfen, zu realisieren, dass wir das Potential für Kreativität, Zusammenarbeit und Fürsorge in uns tragen.
Auf jeden Fall aber ist die Tatsache, dass Menschen egoistisch und unzuverlässig sein können, ein Argument für die Demokratie. Das ist genau der Grund warum man nicht einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe die Macht über den Rest von uns geben kann. Diejenigen, die eine einflussreiche Position innehaben, sind normalerweise korrupt, da sie egoistisch, unzuverlässig oder sonst was sind. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, Macht zu dezentralisieren und zu demokratisieren - um sie dann so weit wie möglich zu teilen.
F: Stimmen Sie die kürzlich in Osteuropa geschehenen Ereignisse zuversichtlich, wenn sie an den gesellschaftlichen Wandel denken?
UD: Die Geschehnisse in Osteuropa sind ein Paradebeispiel dafür, was erreicht werden kann. Das sind Gesellschaften, die für 45 Jahre oder noch länger unter einem äußerst autoritärem Regime standen. Und wenn man dort mit Leuten gesprochen oder einfach nur ein Gefühl für diese Gesellschaft bekommen hat, dann konnte man feststellen, dass die meisten insgeheim nie an eine solche Entwicklung geglaubt haben und schon gar nicht, dass es so schnell gehen würde.
Selbst die Leute, die am mutigsten waren und am meisten Widerstand gegen das Regime leisteten, dachten, dass es ein langwieriger Prozess sein würde, alternative soziale Netzwerke und Bewegungen aufzubauen. In einer Stadt wie Leipzig oder Prag gab es vielleicht ein Dutzend auf hundert Leute, die Aktivisten waren oder Proteste gegen die Regierung organisierten oder auf eine andere Art und Weise widersetzlich waren. Der Rest der Bevölkerung hat einfach nichts gemacht, weil sie dachten, es wäre tollkühn und sie würden ins Gefängnis gesteckt werden oder ihren Job verlieren.
Dann haben sich aber die Umstände geändert und das hauptsächlich, weil sich das Bewusstsein der Menschen geändert hat. Diejenigen, die den einen Tag noch politisch unaktiv waren und zu Hause saßen, waren plötzlich zu Tausenden und Hunderttausende auf der Straße. Und das nur, weil sie plötzlich gemerkt haben, dass so etwas möglich ist. Eine seelische Belastung ist von ihnen gefallen und sie fühlten sich bereit, auf die Straße zu gehen und glaubten plötzlich, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Und da so viele Leute so empfanden, wurde es auf einmal möglich. Und innerhalb weniger Monate wurden alle diese Regimes gestürzt.
F: Was halten sie von der Entwicklung der Ereignisse in den Ländern, nachdem die Kommunisten gestürzt worden waren?
UD: Ich sehe das Ganze mit gemischten Gefühlen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass den Diktaturen ein Ende bereitet wurde und dass Voraussetzungen für eine freiere und vielseitigere Gesellschaft geschaffen wurden. Ich denke aber, dass der Kopfsprung in den sogenannten Kapitalismus des freien Marktes größere soziale und wirtschaftliche Katastrophen mit sich bringen wird. Die Osteuropäer erwarten nun den gleichen Lebensstandard wie der westeuropäische oder amerikanische Mittelstand , viele von ihnen werden aber eher wie westeuropäische Gastarbeiter oder Amerikaner im Ghetto leben müssen. Einigen von ihnen wird es zweifelsohne viel besser gehen als vorher, viele werden aber besonders wirtschaftlich gesehen nicht besser dran sein. Wahrscheinlich werden sich bald die ersten ganz nostalgisch an die gute alte Stalinzeit erinnern! Ebenso habe ich die Befürchtung, dass es zu einer Wiederbelebung von alten nationalen und rassistischen Feindschaften kommen wird. Es scheint so, dass der erste Gedanke von vielen Leute nach dem Sturz der Diktatur war, da weiterzumachen, wo man vor 50 Jahre aufgehört hatte. Bulgarier, oder zumindest einige von ihnen, verfolgen die türkische Minderheit in ihrem Land, die Rumänen immer noch die Ungarn. In Ostdeutschland entwickelt sich ganz offen Faschismus, besonders bei der Jugend, bei den Skinheads und bei ähnlichen Gruppierungen.
F: Was antworten Sie denen, die behaupten, dass nur die freie Marktwirtschaft reiche und freie Gesellschaften hervorbringen kann?
UD: Das ist natürlich der Mythos schlechthin in unserer Zeit. Gesellschaften mit freier Marktwirtschaft haben sicherlich das größte wirtschaftliche Wachstum und sehr viel Reichtum hervorgebracht. Aber eben auch riesige Ungerechtigkeiten. Wir sitzen hier und trinken Kaffee und es geht uns gut. Denjenigen aber, die den Kaffee angebaut und geerntet haben, und die härter arbeiten, als wir es vermutlich jemals tun werden, sind unglaublich arm . Zusammen bilden wir den freien Kaffeemarkt, aber wenn wir an den freien Markt denken, denken wir nur an uns selbst und daran wie reich wir sind. Diese eine Beziehung ist nur ein Mikrokosmos des ganzen Systems des freien Marktes. Wir sehen nur ca. 10 oder 20% dieses weltweiten Systems und glauben, dass das der freie Markt sei. Ist es aber nicht. Das ganze System zusammen bildet den freien Markt und dieses System produziert viel mehr Armut und Leid und Umweltzerstörung als Reichtum. Dies ist kein Unfall. Es liegt nicht daran, dass der freie Markt noch nicht in Afrika oder Südamerika angekommen ist. Er ist schon da. Die Leute dort arbeiten gerade, sie bauen Kaffee – oder was auch immer – für den freien Markt an, von dem wir ein Teil sind.
Genau hier in der reichsten Stadt in einem der reichsten Länder der Welt - und mehr freier Markt als hier geht gar nicht - gibt es Tausende von Leuten, die nicht mal ein Dach über dem Kopf haben. Wenn Sie aus diesem Fenster raus schauen, können Sie zwei von ihnen sehen, eine Frau, die in der Gasse da drüben lebt und schläft und ein Mann, der den ganzen Tag in einem Türeingang sitzt. Wir haben hier Zehntausenden von Menschen, die auf Wohltätigkeitsverbände und Tafeln angewiesen sind, um nicht zu verhungern. In diesem reichen Land gibt es über eine Million Menschen, die keinen Job haben. Im manchen Regionen liegt die Arbeitslosenquote bei über 15%. Viele andere Arbeitnehmer ruinieren sich ihre Gesundheit, weil sie auf ihrem Arbeitsplatz Chemikalien und Fasern ausgesetzt sind. Sie können aber nicht kündigen, da sie ihren Job brauchen. Der freie Markt liefert keine Güter für die meisten Menschen auf dieser Welt. Er liefert viele gute Dinge für wenige, einen ganz guten Standard für viele und sehr, sehr wenig für die meisten. Zum freien Markt gehören nicht nur die Börsenmakler auf der Bay Street, die jedes Jahr hunderttausende von Dollars verdienen, sondern auch die Reinigungskräfte in genau demselben Gebäude, die gerade mal 7 Dollar die Stunde bekommen.
Wenn es um Demokratie oder politische Freiheit geht, müssen Sie nur mal einen Blick auf eine Karte werfen, und sich daran erinnern, dass die meisten kapitalistischen Staaten autoritäre Staaten mit einer repressiven Politik sind. Man muss also die Idee des freien Markts genauer betrachten. Der Ausdruck freier Markt ist ein ideologisches, trojanisches Pferd; mehrere Ideen, die wahllos zusammengewürfelt wurden. Für die Befürworter des freien Markts ist es ganz selbstverständlich, dass wirtschaftliche Unternehmen in Hand von privaten Kapitalisten sind. Das bedeutet, dass wenige Leute den ganzen Reichtum verwalten und viele andere einstellen, die dann für sie arbeiten. Das bedeutet auch, dass letztere keinerlei Kontrolle oder Besitz haben.
Wieso macht man es nicht anders? Man könnte z.B. Geschäftsbeziehungen zwischen genossenschaftlichen Unternehmen, bzw. Unternehmen im Besitz von Mitarbeitern und öffentlichen Unternehmen etablieren, die auf dem freien Markt basieren. Was freier Markt wirklich bedeutet ist, dass man Waren auf Kosten- und Nachfragebasis produziert und tauscht.
F: Wollen Sie damit also sagen, dass Privateigentum falsch ist?
UD: Nein nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an. Manchmal ja, manchmal nein. Es gibt nicht die eine Form von Unternehmen oder Eigentum, die für alle Situationen angemessen ist. Wenn du ein kleines Geschäft hast wie ein Restaurant, einen Lebensmittelladen, oder eine Zahnarztpraxis, dann ist Privateigentum wahrscheinlich am sinnvollsten. Genossenschaften könnten auch funktionieren, je nachdem welche Leute in der Genossenschaft sind. Kleine Unternehmen zu verstaatlichen, wäre ein Alptraum – wenn dafür noch ein Beweis nötig war, dann hat ihn Osteuropa geliefert. Ich sehe keinen Grund, warum sich der Staat dort einmischen sollte, mal abgesehen von Hygienevorschriften in Restaurants oder ähnlichem.
Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass große Unternehmen wie Banken oder ölkonzerne in staatliche Hand gehören. Ich kann nicht verstehen, wieso man unsere natürlichen Ressourcen in private Hand gibt. Wie kann man es rechtfertigen, dass ein bestimmtes Unternehmen Wälder, ölreserven oder Fisch-Quoten besitzt? Diese sollten der Gesellschaft und den zukünftigen Generationen gehören.
F: Wo soll man also die Grenze setzen? Wie groß muss ein Unternehmen sein, bevor es verstaatlicht werden sollte?
UD: Man kann keine willkürliche Grenze festsetzen. Je größer das Unternehmen ist, je mehr Arbeitnehmer es beschäftigt, je mehr Ressourcen es nutzt, je größer sein Einfluss auf die Umwelt und die Gemeinschaft ist, desto stärker sollte das staatliche Eingreifen in dieses Unternehmen sein. Es geht hier nicht nur um staatliches Eigentum. Es gibt auch andere Wege, wie der Staat in Unternehmen eingreifen kann, wie z.B. durch Steuerpolitik, Umweltauflagen, Gesetzgebung.
Egal welche Mischung an Eigentum wir letztendlich haben, das wichtigste ist, dass die wirtschaftliche Aktivität viel mehr demokratischen Input braucht. Wir sollten uns nicht so daran fest beißen, dass es nur einen Weg gibt, nämlich das Staatseigentum, um mehr demokratische Kontrolle ausüben zu können. Es gibt mehrere Möglichkeiten: Wir müssen nur kreativ und flexibel sein. Und wir müssen auf diejenigen hören, die bereits in einer bestimmten Branche oder in einem bestimmten Unternehmen arbeiten. Oft haben die nämlich die besten Ideen, wenn es um Verbesserungen geht.
Ich würde besonders andere Eigentumsformen vorschlagen, wie eben Arbeitergenossenschaften. Aber es ist sicher wichtiger, Unterstützung zu bieten und Anreize zu setzen, als zu versuchen, jeden in eine bestimmte Form zu pressen.
Ganz egal was wir tun, eine gewisse Flexibilität sollte immer vorhanden sein, um Experimente und Initiative zu fördern.
F: Für Sie gehört die radikale Demokratie zum gesunden Menschenverstand. Im Connexions Annual schreiben Sie Warum sollten sich wirtschaftliche Aktivitäten nicht für sozialen Unsinn rechtfertigen müssen, wenn sie unsere Ressourcen konsumieren? Warum sollten wirtschaftliche Aktivitäten eigentlich nicht demokratisiert werden, und zwar von denen, die die Arbeit leisten und die Güter und Dienstleistungen brauchen?
UD: Nun, für mich sollte das eigentlich Teil des gesunden Menschenverstandes sein. Aber offensichtlich trifft das nicht auf jeden zu.
Es hängt davon ab, woran man glaubt. Wenn man der Meinung ist, dass eine gute Gesellschaft die ist, in der Menschen so viel Reichtum wie möglich anhäufen sollen, dann fällt es wohl nicht unter gesunden Menschenverstand.
Ich bin ein starker Verfechter der Demokratie. Eine richtige Demokratie muss einen Inhalt haben und die Demokratie in unserem Land hat das nicht. Unsere Demokratie beschränkt sich darauf, dass man alle Jahre zur Wahl geht, und seine Stimme für eine Person abgibt, der dann als einfacher Abgeordneter nach den Anweisungen seiner Partei handelt. Und man weiß genau, dass, egal welche Partei man wählt, diese ihre Wahlversprechen eh nicht einhalten wird.
Selbst das Wahlsystem in diesem Land ist nicht sehr demokratisch. Bei den letzten Wahlen hat eine klare Mehrheit gegen den Freihandel gestimmt und trotzdem wurde dieser am Ende eingeführt, und zwar von einer Regierung, die von einer großen Mehrheit der Wähler nicht gewollt war.
Damit es eine wahre Demokratie ist, muss man direkter und häufiger Einfluss nehmen können. Und man muss vor allem auf die Dinge Einfluss nehmen können, die wirklich wichtig sind. Wenn die Schlüsselentscheidungen in der Chefetage der Unternehmen getroffen werden, hat das nichts mehr mit Demokratie zu tun.
Wir müssen auch der Umwelt zuliebe mehr Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen nehmen können.
Die Leute müssen sich einer Sache bewusst werden: Wir sind alle Teil der Umwelt, wir sind alle davon betroffen, was andere Leute ihr antun, ob sie Wasser, Luft oder unseren Boden verschmutzen. Die einzige Möglichkeit, Einfluss auf so etwa zu nehmen, ist gleich zu Beginn. Es ist viel sinnvoller, die Umweltverschmutzung zu stoppen, bevor sie geschieht, als sie im Nachhinein zu beseitigen. Oder Müll gleich zu vermeiden, als später zu versuchen, ihn wieder loszuwerden. Wir müssen demokratische Verantwortung dafür übernehmen, dass so etwas in Zukunft von vorne herein vermieden wird.
Auch müssen wir Einfluss auf die Entscheidungen, die die Gesundheit der Menschen am Arbeitsplatz betreffen, nehmen. Wenn man z.B. Stoffe einatmet, die möglicherweise krebserregend sind, muss man auch das Recht haben, das zu erfahren und man sollte nicht auf das Industriegeheimnis acht geben müssen. Und man muss das Recht haben mit den anderen zusammen – und im Hinblick auf das Allgemeinwohl – zu entscheiden, ob diese Stoffe verwendet werden sollten. Nicht nur, weil vielleicht der eine Inhaltsstoff billiger ist als der andere, sondern aus der Hinsicht, was das größere Gesundheitsrisiko darstellt.
Solange die Entscheidungen ausschließlich auf Basis der Profitmaximierung von Managern und Eigentümern getroffen werden, sind es keine Entscheidungen aus ökologischer Sicht, aus Sicht eines Arbeitnehmers oder aus Sicht der sozialen Verwendung eines Produktes.
F: Sie wurden in den späten 60er Jahren zum Aktivisten. Wie bewerten Sie aus heutiger Sicht den Radikalismus dieser Jahre?
UD: Das wichtigste in den 60er Jahren war die Vorstellung, dass richtige Veränderungen möglich waren. Man musste sich nicht mit schäbigen Kompromissen zufrieden geben, sondern man konnte damals die Gesellschaft grundlegend verändern.
Das Verständnis von Macht war wahrscheinlich naiv, da uns vermutlich nicht bewusst war, wie lang und steinig der Weg sein wird.
Für mich war der Gedanke am wertvollsten, dass man einfach raus gehen und die Welt verändern konnte. Dies war ein mentaler und psychologischer Durchbruch, der die Basis für viele Bewegungen geschaffen hatte, die den 60er Jahren folgten.
Der Gedanke einer partizipativen Demokratie war eine der Schlüsselideen der 60er Jahre. Diese Idee war nicht klar definiert, sondern sie entstand aus dem Bauchgefühl heraus, dass die Menschen Einfluss auf wichtige Entscheidungen haben sollten. Diese Entscheidungen sollten nicht von einer anonymen Machtstruktur getroffen werden, sondern direkt von den Bürgern. Dies ist eine sehr radikale und subversive Idee, die in anderen Bewegungen wie der Frauen- oder Umweltbewegung weiterlebt.
F: Ein Gedanke des Radikalismus in den 60er Jahren, den Sie in ihrem eigenen Beitrag hervorgehoben haben, ist, dass soziale Veränderungen nicht nur politischer und ökonomischer Natur sein sollen, sondern auch, dass wir unseren Lebensstil und unsere Art, zu denken, ändern müssen. Sie haben geschrieben, dass sozialistische Politik die Kritik und Umwandlung des täglichen Lebens erfordert und dass Kapitalismus ein Gesamtsystem ist, das in alle Bereiche unseres Lebens eindringt: Sozialismus muss die kapitalistische Realität in ihrer Gesamtheit überwinden. Wie kann man das etwas einfacher ausdrücken?
UD: Das bedeutet, dass wir bei unseren politischen Aktivitäten und Beziehungen zu unseren Mitmenschen, versuchen sollen, unsere Politik zu leben und Prozesse und Strukturen aufzubauen, die wir vertreten. Darunter fallen offene, demokratische Organisationen, gegenseitiger Respekt, Gleichberechtigung der Geschlechter, keine Ausgrenzung von Minderheiten, freie und offene Diskussionen usw. Und es bedeutet auch, dass wir unser eigenes Leben als freie Lebewesen so gut wir können leben und unser eigenes Potential, das Gemeinschaftswesen zu fördern, begreifen...Ich weiß, dass es viel einfacher ist, ein paar vage Allgemeinheiten aufzuzählen, als genauer zu werden. Ich denke das muss man von Situation zu Situation entscheiden. Vielleicht ist es wichtig, das Ganze solange voranzutreiben, bis man handelt. Man muss sichergehen, dass man sein Ziel nie aus den Augen verliert. Ich glaube, dass Frauen darin häufig besser sind und hoffe, dass Männer da auch irgendwann hinkommen.
F: Was halten Sie von den radikaleren Formen der sozialen Experimente: Leben in Kommunen, sexuelle Freizügigkeit, und nichtmonogame Beziehungen, verschiedene Sorgerechtslösungen und derartige Dinge?
UD: Ich bin sicherlich für den Versuch, sich aus einigen sozialen und moralen Konventionen zu lösen. Augenscheinlich funktionieren manche Experimenten besser als andere und einige sind auch viel besser konstruiert als andere. Wir haben schon viele Dummheiten aber auch positive und kreative Dinge erlebt. Aber so ist es nun mal, wenn man Experimente wagt.
Ich weigere mich bei solchen Dingen, dogmatisch zu sein. Man kann keine weit verbreitete soziale Institution wie die Ehe abstempeln, indem man sagt: Das ist schlecht, lasst uns das abschaffen - als ob es etwas wäre, das man einfach wegverordnen kann. Man kann nicht mit dem Vorschlaghammer auf Muster der zwischenmenschlichen Beziehungen einschlagen. Aber wir müssen unsere eigene Haltung Dingen wie der Ehe und Sexualität gegenüber hinterfragen und überlegen, wie wir freie Lebensformen finden können.
F: Würden Sie z.B. die offene Ehe befürworten?
UD: Ich würde so etwas weder befürworten noch ablehnen. Es gibt nicht die eine Lösung, die zu jedermann passt. Und es ist einfach, andere zu verletzen (und sich selbst auch). Man muss langsam herausfinden, was man braucht und was zu einem passt. Für die meisten Menschen ist die offene Ehe oder ähnliches (zumindest in dieser Gesellschaft) zu bedrohend.
Ich bin aber der Meinung, dass die offene Ehe genauso legitim ist wie eine monogame Beziehung. Natürlich ist eine monogame Beziehung oft weniger monogam als man es eigentlich gern hätte. In Nordamerika haben ca. 70% der verheirateten Männer und 50% der verheirateten Frauen mindestens eine Affäre. Meistens geschieht es halt im Geheimen. Ich glaube, dass die Leute, die für den sozialen Wandel kämpfen, ihre eigene Haltung solchen Dingen gegenüber überprüfen müssen. Ich kenne genug Männer, die es in Ordnung finden, wenn sie ab und zu mal fremd gehen, aber nicht wollen, dass die Partnerin dasselbe tut.
In jedem Fall bin ich der Meinung, dass es für den gesellschaftlichen Wandel absolut notwendig ist, das Alltagsleben und Beziehungen zu befreien. Frauen sind, wie ich schon erwähnt habe, in dieser Hinsicht weiter.
Und Schwule, Bisexuelle ebenfalls, die unter anderem uns gezeigt haben, dass es in Ordnung ist, Sex zu genießen. Als Gesellschaft gehen wir ziemlich schlecht mit dem Thema Sexualität um. Wir müssen uns auf unsere Sexualität und unseren Körper einlassen. Wir benutzen sexuelle Bilder, um Ware zu verkaufen, verfolgen aber gleichzeitig Nudisten. Wir brauchen eine höhere Akzeptanz von zwangloser Nacktheit, ehrlichen Genuss am Sex, besserer Pornographie und es muss endlich Schluss sein mit dieser pervertierten Objektivierung der Sexualität durch die Medien.
F: Gute Pornografie? Gibt es das? Unterscheiden Sie zwischen Pornografie und Erotika?
UD: Wenn man es gut findet, ist es Erotika und wenn nicht dann ist es Pornografie. Das glaube ich einfach nicht. Mir ist bewusst, dass Pornografie angeblich Frauen und Sexualität objektiviert, während Erotika Sex als etwas Erhebendes darstellt. Das ist aber ein kritisches Urteil und keine objektive Definition. Es ist so wie mit einem guten und schlechten Roman. Da gibt es mit Sicherheit einen Unterschied, aber es ist ein Qualitätsunterschied und nicht ein Unterschied zwischen zwei Dingen. Es sind beide Romane. Und genauso gibt es eben gute und schlechte Pornografie. Oder gute und schlechte Erotika, wenn Sie diesen Begriff vorziehen.
Ich kenne Leute, die der Meinung sind, es gäbe einen objektiven Standard, um Pornografie von Erotika zu unterscheiden. Ich habe Definitionen gehört, die lauteten: Wenn der weibliche Körper als Objekt betrachtet wird, ist es Pornografie und wenn es um gegenseitigen Genuss geht, ist es Erotika.’ Nun versuchen Sie dies mal in der Realität anzuwenden.
Für mich ist Pornografie wie Fernsehen. Das meiste ist ziemlich schlecht, manches ist gewalttätig und manches einfach nur widerwärtig. Allerdings wette ich, dass im Fernsehen – sogar in Kindersendungen – viel mehr Gewalt dargestellt wird als in der Pornografie. Es gibt die Tendenz in unserer Gesellschaft, das Schlechte in den Dingen zu fördern – sei es nun Fernsehen oder Pornografie. Aber es muss nicht grundsätzlich schlecht sein. Manchmal ist es ziemlich gut, oder zumindest ganz anständig – ich meine dann wohl eher unanständig! – und unter anderen Umständen könnte mehr davon gut sein.
F: In der Hinsicht stimmen Sie also nicht mit der Frauenbewegung überein?
UD: Genau in dieser Hinsicht nicht. Ich stelle nicht in Frage, dass die Frauenbewegung eine sehr positive Bewegung ist. Sie hat einen starken Einfluss auf fast jeden Bereich unserer Gesellschaft genommen und hat Dinge angesprochen, bei denen es bitter notwendig war. Sie hat den gesellschaftlichen Wandel verändert, auch wenn es noch ein langer Weg ist, den wir gehen müssen.
Ich stehe allerdings der Richtung etwas kritisch gegenüber, die die Frauenbewegung teilweise genommen hat. Wichtige Dinge wie Gewalt gegenüber Frauen und Abtreibung wurden angegangen. Dennoch hat es den Anschein, als ginge es mittlerweile vielen der Feministinnen um Macht und Reichtum und nicht mehr um eine Veränderung des Systems. Anstatt dass nun die Hälfte der Unternehmensvorstände weiblich besetzt ist, geht es eher darum, den Konzernen Macht und Reichtum wegzunehmen.
F: Vielleicht ändert sich aber die Macht und die Art und Weise, wie sie benutzt wird, mit den Frauen?
UD: Das ist nicht sehr wahrscheinlich! Natürlich ist es in Ordnung, dass Frauen und andere benachteiligte Gruppen die Macht haben, die ihnen zusteht. Das wird aber nicht grundlegend die Natur der Macht verändern. Politikerinnen haben uns gezeigt, dass sie genauso grausam sein können wie ihre männlichen Pendants. Schwarze können genau solche Despoten sein wie Weiße. Von einer Frau oder einer Person der eigenen Rasse unterdrückt oder ausgebeutet zu werden, macht die Sachte nicht besser. Es zeigt aber zumindest wie wichtig es ist, die Machtstruktur transparenter zu gestalten.
F: Aber ist es nicht möglich, dass Frauen dies nur tun, weil sie sich den Männern und der männlichen Machtstruktur anpassen? Deshalb müssen sie ja auch Blazer tragen...
UD: Nun, jeder muss sich an die Machtstruktur anpassen, Männer auch. Sie müssen Anzug und Krawatte tragen, ob sie nun wollen oder nicht. Die Machtstruktur ist da gnadenlos.
Frauenorganisationen oder Organisationen, die von Frauen geführt werden, sind oft nicht egalitärer als Organisationen, die von Männern geleitet werden. Man findet dort genauso viel Machtgehabe und Hinterhältigkeiten wie überall sonst auch.
Das Problem ist eher, dass wir ein hierarchisches System haben, dass autoritär ist und Leute ausbeutet. Eins der wichtigsten Charakteristika ist, dass es immer noch von Männern dominiert wird. Das könnte sich aber ändern und zu einem System führen, in dem die Geschlechter gleichberechtigt sind, aber es immer noch Leute unterdrückt und ausbeutet.
Es kann auch irreführend sein, im Zusammenhang mit unserem System von männlicher Dominanz zu sprechen. Es gibt viele verschiedene Aspekte der männlichen Dominanz. Im weiteren sozialen Sinn versteht man darunter, dass Männer mehr Macht und Rechte haben, auch in der Ehe, und dass sie es z.B. leichter in der Arbeitswelt haben. Was das betrifft, haben die Männer relativ gesehen mehr Rechte. Diese Ungleichheit ist eines der Hauptprobleme und Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft.
Dann ist da noch die Tatsache, dass die Führer einer Gesellschaft meistens männlich sind. Offensichtlich haben diese beiden Dinge etwas miteinander zu tun. Das ist kein Zufall. Aber wenn man einfach von männlicher Dominanz spricht, hört es sich so an, als würden die 13 Millionen Männer in Kanada das ganze Land beherrschen. Das ist falsch. Die meisten Männer haben auf diesem Level überhaupt keine Macht. Ich schätze jetzt einfach mal, dass etwa 100 000 Leute in Kanadas Elite sind und vielleicht 80% davon sind Männer. Der Rest der Männer hat auf diesem Level nicht mehr Macht als die Frauen, die ebenfalls nicht zur Elite gehören. Ein Arbeiter hat auch nicht mehr Anteil an der Macht eines Unternehmensleiters oder Kabinettsministers als eine Arbeiterin. Sie haben genau den gleichen Machtanteil, nämlich gar keinen.
Frauen die in die Elite wollen oder sich innerhalb dieser mehr Macht verschaffen wollen, machen sich meistens Sorgen, dass die Männer alles einverleiben. Sie wollen die Hälfte der Macht in Frauenhänden wissen. Toll. Dann ist eben die Hälfte der Unterdrücker weiblich. Ich will damit nicht sagen, dass es nicht richtig ist, dass Frauen die Hälfte abbekommen sollen und mehr Frauen in einer Machtposition bedeutet natürlich eine Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Es gibt heute mehr Lohngerechtigkeit, einen Ausbau der Tagesbetreuung und mehr Sicherheit auf der Straße. Ich denke, dass diese Dinge sehr wichtig sind. Ich unterstütze diese Entwicklung voll und ganz. Es läuft dennoch darauf hinaus, dass die weibliche Elite, die in der Frauenbewegung viel zu sagen hat, an dieser Stelle nicht weiter kämpft. Und dieser Stillstand ist gleichbedeutend mit einer kapitalistischen, undemokratischen, umweltzerstörerischen Gesellschaft, in der die Geschlechter gleichberechtigt sind.
F: Sie sind also der Meinung, dass die Klassenzugehörigkeit wichtiger als das Geschlecht ist?
UD: Sagen wir mal grundlegender. Ich denke, dass Klassenbeziehungen der fundamentale Motor unserer Welt sind. Sie definieren das System mehr als alles andere. Das Wort wichtig zu benutzen kann in die Irre führen, da dies ein Werturteil sein kann. Wenn nach Ihrem Bauchgefühl die Unterdrückung der Frauen oder die Umwelt, Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit wichtiger sind als die Klassenzugehörigkeit, nun was soll ich dann sagen? Ich denke aber, dass unser wirtschaftliches System auf Klassenbeziehungen basiert, und zwar hauptsächlich auf denen zwischen den Kapitalisten und der Arbeiterklasse. Denn diese Beziehungen entscheiden, was mit dem Reichtum geschieht, wer die Macht hat, wo die Leute wohnen, welcher Arbeit wir nachgehen, für wen wir das tun und sie legen den Kontext fest, in dem die Regierung arbeitet.
Wenn man darüber nachdenkt, kann man sich vorstellen, dass die Machtstruktur zugunsten des Geschlechts nachgibt und Frauen sozusagen die Hälfte vom Kuchen abbekommen. Sie werden es nicht mögen, aber es ist denkbar. Das System wird immer noch funktionieren. Es ist aber unmöglich, dass die Machtstruktur zugunsten der Klassen nachgibt, also zugunsten der Teilung der Gesellschaft in die, die den Reichtum besitzen und die, die es nicht tun. Wenn man das tun würde, würde man aufhören, zu existieren. Wenn man Frauen hinein lassen würde, würde man nicht aufhören zu existieren.
In diesem Sinne glaube ich also, dass die Klasse die wichtigste Beziehung ist. Es ist die härteste Nuss, die es zu knacken gilt.
F: Wie sieht es mit dem Alter aus? Wenn es um den gesellschaftlichen Wandel geht, werden die Leute da konservativer, wenn sie älter werden? Werden sie weiser?
UD: älter werden ist augenscheinlich ein wichtiger biologischer Faktor. Alter kann einen Einfluss auf die politischen Aktivitäten haben, besonders da mit zunehmendem Alter noch andere Faktoren wie Kinder oder finanzielle Verantwortung eine Rolle spielen, die dazu führen können, dass man sich aus dem politischen Leben etwas zurückzieht.
Im Großen und Ganzen denke ich aber, dass der Einfluss des Alters überschätzt wird. Ich kenne viele Leute, die heute noch genauso politisch aktiv sind wie vor 20 oder 25 Jahren. Jeder, der sich für den gesellschaftlichen Wandel einsetzt, kennt Leute, die schon seit 30, 40, 50 Jahren oder noch länger Aktivisten sind. Das ist nichts ungewöhnliches. Und viele junge Leute sind dafür schrecklich konservativ. Das Alter hat mit Sicherheit einen gewissen Einfluss, aber ich denke meistens wird dieser Einwand eher gebracht, um Leute zu stereotypieren und um Gräben zu schaffen, die nicht existieren oder leicht zu überwinden sind. Es ist also gut möglich, älter zu werden, und dennoch Kontakte herzustellen und gemeinsame Sache zu machen, wenn man es denn will.
Hm die Frage, ob man mit dem Alter weiser wird.....Nun, sagen wir mal so. Wenn man älter wird, gibt es mehr Gelegenheiten, weiser zu werden, weil man die Chance hatte, mehr zu erleben, mehr Fehler zu machen, aus ihnen zu lernen und mehr zu lesen. Ich habe allerdings festgestellt, dass die meisten Menschen diese Chance nicht nutzen. Junge Narren werden auch oft zu alten Narren.
Aber ich glaube, dass die Bewegungen für den sozialen Wandel von den älteren und erfahreneren Aktivisten lernen müssen. Wir haben hier Leute, die viel erlebt und gelernt haben und weiser geworden sind und wenn wir versuchen würden, von ihnen zu lernen, könnten wir nur davon profitieren.
Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass wir uns mehr bemühen, die Barrieren zwischen den Generationen abzubauen.
F: Sie stecken viel von ihrer politischen Energie in Connexions. Wie sehen Sie selbst Connexions und welche Rolle spielt es im sozialen Wandel in Kanada?
UD: Die Situation in Kanada ist – so wie in vielen anderen Ländern – die folgende: Es gibt keine organisierte nationale politische Partei oder Kraft, die sich dem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel verschrieben hat. Die NDP [Neue Demokratische Partei] ist davon weit entfernt. Außerhalb der NDP gibt es viele Leute, die verschiedenste Graswurzelbewegungen und Koalitionen organisieren, aber zersplittert sind. Ich würde gerne sehen, dass eine umfassendere Bewegung mit einem stärkeren Einheitsgefühl entsteht und dass die Aktivitäten effektiver koordiniert werden.
Ich bin der Meinung, dass Connexions zu dieser Entwicklung beiträgt, indem es Leute darüber informiert, was andere Gruppen tun, was andere Aktivisten denken, welche Erfahrungen sie machen, und ob sie erfolgreich sind oder nicht, welche Strategien sie verwenden, welche Ressourcen sie produzieren. Ebenso hilft Connexions Kontakte herzustellen und macht Leuten klar, dass es noch andere Gruppen gibt, die ähnliches tun und gibt die Namen und Adressen heraus und sagt: Du kannst da anrufen und vielleicht mit denen zusammenarbeiten. Wir liefern euch diese praktische Information.
Darüber hinaus ist Connexions da, um Ideen zu verbreiten. Teilweise um Ideen zu verbreiten, die diese ganzen verschiedenen Aktivisten im Zusammenspiel mit anderen Aktivisten und der öffentlichkeit entwickeln, und auch um Leute dazu zu bringen, dass sie über gewissen Ideen nachdenken. Wie z.B. über die Idee, dass es gut ist, mit anderen Leuten Bündnisse einzugehen und sich bewusst zu werden, dass es Verbindungen zwischen den Dingen gibt, und den Leuten klar machen, dass es Verbindungen zwischen Umweltproblemen und Frieden und Dritter Welt und Menschenrechte, Frauen und Ureinwohnern gibt. Dass diese Dinge alle etwas miteinander zu tun haben. Versuchen die Leute dazu zu bringen, weniger parochial in ihrer Denkweise zu sein, da Engstirnigkeit ein großer Nachteil der Graswurzelbewegungen in Kanada ist. Sie neigen dazu, zu denken wir setzen uns nur für den Wohnungsbau ein oder für den Frieden oder wir betätigen uns nur ein dieser einen Gemeinschaft. Das ist sicher gut und schön, aber – wie es der Slogan schon sagt - , man muss genauso global denken wie lokal handeln. Wenn man nicht versucht, übergreifender zu denken, beschränkt man sich selbst in seinen Möglichkeiten.
Ich hoffe, dass wir mit Hilfe von Connexions die Leute ermuntern können, zu sehen, dass es Verbindungen zwischen den Themen gibt und darüber hinaus zu analysieren, was diese Verbindungen genau sind und herauszufinden, was man mit denjenigen gemeinsam haben könnte, die in anderen Gemeinschaften oder an anderen Themen arbeiten.
In dem Moment, in dem man versteht, dass der eigene Kampf auch der Kampf von jemand anderem ist oder dass die eigenen Bedenken und Probleme Teil dieses Kampfes sind, wird das Potential für eine stärkere und effektivere Bewegung geschaffen.
Die Bewegung der Arbeiterklasse hat den Slogan: Eine Ungerechtigkeit für eine Person ist eine Ungerechtigkeit für alle. Durch diese Herangehensweise versteht man, dass Solidarität, Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung, oder wie auch immer man es nennen will, gleichzeitig eine Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen, als auch eine Handlung aus rationalem Selbstinteresse ist.
Das heißt, dass man Unterstützung anbieten soll, wenn sie gebraucht wird, oder Unterstützung geben soll, wenn darum gefragt wird. Dies hilft den Leuten in ihrem Kampf, denn wenn sie unterstützt werden, haben sie mehr Schlagkraft, mehr Gewicht, bessere Möglichkeiten, etwas zu erreichen, und es macht sie stärker und selbstbewusster, was oft einen großen Teil des Kampfes ausmacht. Es hilft ihnen ebenso, ihre Augen zu öffnen und zu erkennen, dass es da vielleicht eine gemeinsame Basis gibt für eine Zusammenarbeit gibt. Und es bringt die Menschen dazu, die Unterstützung zu erwidern.
Was man auf diesem praktischen Level macht, ist, politische Analyse, klassische Analyse mit grundlegender Solidarität und praktischer Machtvermittlung zu kombinieren. Und tatsächlich ist das alles fast dasselbe. Und dann hat man die Basis geschaffen und kann zu den Leuten gehen und sagen Schaut, wir haben euch geholfen und jetzt brauchen wir eure Hilfe. Das ist viel einfacher, wenn man diese Leute vorher schon unterstützt hat, als sie Hilfe brauchten.
Menschen, die sich für eine Wandel einsetzen, müssen viel mehr daran denken, dass es im Interesse aller ist, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und Allianzen und Koalitionen zu bilden.
F: Sie bereuen also nichts?
UD: Ich habe Fehler gemacht, die ich bereue. Ich vermute mal das haben wir alle. Aber was meine Entscheidung, wie ich mein Leben führe, betrifft, da bereue ich nichts. Natürlich wünsche ich mir manchmal, dass alle etwas einfacher wäre, aber ich möchte mich nicht selbst bemitleiden. Man muss aus den Möglichkeiten, die das Leben einem bietet, das Beste machen und glücklich werden. Und ich bin von Natur aus eine ziemlich glückliche Person. Das Wichtigste ist eigentlich, dass man einen Sinn für Humor hat, dass man über die Absurditäten des Lebens und über sich selbst lachen kann.
F: Und der Ulli Diemer von heute findet sein Glück immer noch in der politischen Aktivität?
UD: Wissen Sie, ich habe auch andere Interessen. Mir wurde mehr als einmal vorgeworfen, dass ich zu eklektisch und nicht politisch genug sei. Das ist übrigens eine andere Strategie, um gesund zu bleiben, nicht auszubrennen. Aber ja ich arbeite immer noch daran, die Welt zu verändern. Das bin ich. Das ist die Person, die ich bin.
F: Egal, wie lange es dauert?
UD: Egal wie lange es dauert. Ich bin eine schrecklich sture Person. Aber ich habe auch gerne Spaß und nehme das Leben nicht zu ernst.
Also available in Arabic: Interview.
Also available in English: Interview with Ulli Diemer.
También disponible en español: Entrevista con Ulli Diemer.
Aussi disponible en français: Entrevue avec Ulli Diemer.
Stichwörter: Demokratie - Libertärer Sozialismus